Die Sozialen Berufe, ihre Wichtigkeit für die Gesellschaft und ihre Zukunftsfähigkeit am Arbeitsmarkt standen im Mittelpunkt des Sozialpolitischen Aschermittwochs des Bezirksverbands Oberbayern im Februar 2023. Nach drei Jahren coronabedingter Pause konnte die traditionelle Veranstaltung wieder vor Ort stattfinden, diesmal in Kolbermoor im Landkreis Rosenheim.
Neben dem Bürgermeister von Kolbermoor, Peter Kloo, waren auch die stellvertretende Landrätin von Rosenheim, Andrea Rosner, sowie der Präsident des Bezirks Oberbayern, Josef Mederer, gekommen. Gemeinsam mit Vertreter*innen von AWO-Gliederungen aus ganz Oberbayern, Geschäftspartner*innen und Partnerverbänden der AWO Oberbayern hörten sie einen aufschlussreichen Vortrag von Arbeitswissenschaftlerin Michaela Evans, Direktorin des Forschungsschwerpunkts Arbeit und Wandel am Institut Arbeit und Technik in Gelsenkirchen, über die Gestaltung der Arbeitsbedingungen von Sozialen Berufen.
Fachkräftepotentiale heben
Statt von Fachkräftemangel spricht Michaela Evans lieber von Fachkräftepotentialen. Dahinter steckt die Frage, was es bedarf, um ehemalige Fachkräfte in die Pflege zurückzuholen und/oder Teilzeitarbeitende zurück in einen Vollzeitjob. Ein Ergebnis ihrer Forschungsarbeit: Bis zu 300.000 Vollzeitkräfte ließen sich beispielsweise in der Pflege aktivieren! Dafür seien jedoch große Anstrengungen vieler Akteur*innen nötig: vom Gesetzgeber über Sozialpartner bis hin zu Trägern und Betrieben, so Evans.
So vieles läuft gut in der Branche
Was konkret tun? „Wir müssen lauter werden“, sagt Michaela Evans, „lauter, was die Leistungsfähigkeit Sozialer Berufe angeht.“ Darüber berichten, was bereits gut läuft in den Sozialen Berufen, beispielsweise, welche Entwicklungs- und Karrierechancen es gibt in der Branche. Ziel müsse es sein, dem negativen Bild der Sozialen Berufe in den Medien und in der Öffentlichkeit etwas entgegenzusetzen. Die Arbeitswissenschaftlerin nennt das „äußere Aufwertung“.
Zusammen denken: Wirtschaft und Soziales
Zudem spannt Michaela Evans einen Bogen, der über die Branche hinausgeht. Sie sagt: „Wirtschaft und Soziales müssen zusammen gedacht werden.“ Und: Wer von einem Wirtschaftsstandort Bayern spricht, muss erst die Grundlage im Sozialen schaffen. Bedeutet konkret: Erst, wenn Kinder und Pflegebedürftige betreut sind, können Arbeitgeber anderer Branchen – egal, ob Industrie, Handel oder Handwerk – Menschen finden, die für sie arbeiten. Denn viele Menschen in Deutschland haben nicht nur eine Erwerbsarbeit, sondern auch eine sogenannte Sorgearbeit, in deren Rahmen sie sich um andere kümmern.
Eine weitere Voraussetzung für die Weiterentwicklung und Transformation der Wirtschaft ist Weiterbildung. Weiterbildung ist jedoch nur möglich, wenn Kinder und/oder Angehörige in dieser Zeit betreut sind. Oder negativ formuliert: Die Wirtschaft ist geschwächt, Transformation und Weiterentwicklung stocken, wenn berufliche und betriebliche Weiterbildung nicht möglich ist.
Integration und gesellschaftlicher Zusammenhalt
Und selbst wenn die Suche nach Arbeitskräften die Unternehmen ins Ausland führt, brauchen sie dafür die Unterstützung der Sozialen Berufe. Damit eine gute Integration der Arbeitskräfte gelingt, unterstützen Mitarbeitende von Migrationsberatungen beispielsweise bei der Wohnungssuche, bei Behördengängen und beim Ankommen in der neuen Heimat. Michaela Evans zeigt: Ganz egal, welchen Weg wir gehen, um die Wirtschaft weiterzuentwickeln, die Sozialen Berufe müssen stets mitgedacht werden. Sie sind die Grundlage und die Zukunft unserer Wirtschaft und Gesellschaft.
Und bei noch etwas spielen die Sozialen Berufe eine zentrale Rolle: Sie sind die Basis für gesellschaftlichen Zusammenhalt und für mehr Gleichberechtigung. Sei es, dass Männer mehr Zugang zu Pflegeberufen bekommen oder dass Frauen – und vor allem Mütter – mithilfe einer zuverlässigen Betreuung von Kindern und/oder Angehörigen mehr einer Erwerbsarbeit nachgehen können.
Blick hinter die Kulissen: die Arbeitskultur
Ein weiterer Anknüpfungspunkt, um die Attraktivität der Sozialen Berufe zu steigern, ist für Evans die „innere Aufwertung“. Hier spricht sie direkt die Träger von Sozialen Einrichtungen an und die Betriebe selbst, vor allem die Führungskräfte. Sie haben laut Evans die Chance, den Arbeitsalltag der Mitarbeitenden proaktiv zu gestalten. Viele tun dies bereits, beispielsweise mit Arbeitszeitkonten, speziellen Urlaubsregelungen, betrieblichen Sozialleistungen, einem Programm zur Gesundheitsförderung oder individuellen Angeboten zur Weiterbildung und Qualifizierung.
In einer Befragung von Pflegekräften fand Michaela Evans zudem heraus, was auf der Wunschliste von Arbeitnehmer*innen steht: beispielsweise „mehr Wertschätzung durch Vorgesetzte“, „fairer Umgang unter Kolleg*innen“, „Respekt“ und die „Anerkennung individueller Arbeitsbelastung“. Es lohne sich, über die eigene Arbeitskultur nachzudenken und den Umgang miteinander gegebenenfalls zu verändern.
Historischer Moment für Soziale Berufe
Michaela Evans sieht die Sozialen Berufe in einem historischen Moment. Es sei an der Zeit, den „Wert des Sozialen neu“ zu vermessen. Das beginne in den Einrichtungen selbst und der Gestaltung der Arbeitsplätze vor Ort und reiche bis zu einer neuen Bewusstseinsschaffung in der Gesellschaft. Hier müssten die Sozialen Berufen an einen neuen Platz gerückt werden, denn sie seien Grundlage allen wirtschaftlichen Handelns. In den Einrichtungen selbst steht ein Kulturwandel an mit mehr Innovation und mehr Kreativität für mehr Attraktivität der Sozialen Berufe.
Bild 1: Cornelia Emili, Vorstandsvorsitzende, Referentin Michaela Evans und Nicole Schley, Präsidentin (v.l.n.r.)
Bild 2: Referentin Michaela Evans über die Neugestaltung Sozialer Berufe © Bezirksverband Oberbayern
Linda Quadflieg-Kraft
Dieser Text ist eine Vorabveröffentlichung. Er erscheint als gedruckter Artikel in der AWO-Mitgliederzeitschrift WIR auf Seite 12. Die Zeitschrift wird Anfang Juni an alle Mitglieder der AWO in Oberbayern versandt.
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